Projekte und Aktionen

Islam im Kanton Zug – Integration statt Vorurteile 2002
…mehr

Islam im Kanton Zug – Plakatatelier und -Ausstellung 2002
…mehr

Islam im Kanton Zug – Postkarten 2002
…mehr


Wir wissen nichts über den Islam!
Diskussions- und Fragerunde in der Moschee in Steinhausen
Samstag, 19. Dezember 2009, 13.00 Uhr, Sumpfstrasse 1,
6312 Steinhausen
...mehr

Facetten des Islam im Kanton Zug 2009 & 2010

Mit diesem Projekt will das Integrationsnetz Muslime verschiedenster Facetten miteinander und mit Nicht-Muslimen ins Gespräch bringen. Ziele sind Information, Sensibilisierung, Begegnung, Verständigung, der Abbau gegenseitiger Vorurteile sowie vermehrte Integrationsleistungen für die und von den Muslimen.


a) Zuger Islam-Charta: Diskussionsgrundlage

Die geplante Zuger Islam-Charta basiert auf dem Schutz der allgemeingültigen Menschenrechte. Sowohl die Freiheiten und Pflichten der Einzelnen, wie auch die Anerkennung der muslimischen Gemeinschaft durch den Staat stehen im Zentrum. Die Charta soll sich gegen Rassismus, Ausländer- und Islamfeindlichkeit von Seiten der Einheimischen, aber auch gegen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie von Seiten migrantischer Gemeinschaften richten.

Hier lesen Sie die Diskussionsgrundlage für eine solche Charta, die wir im Frühsommer 2010 lancieren möchten. Es gibt eine kürzere und eine ausführliche Version. Wir freuen uns auf Ihr Feedback, das Sie uns per Mail, schriftlich oder auch telefonisch zukommen lassen können (siehe Kontaktangaben im Charta-Text).

Wir freuen uns auf Ihr Feedback, das Sie uns bis Ende Februar 2010 per Mail, schriftlich oder auch telefonisch zukommen lassen können an: islam@inz.ch. Vielen Dank.

Zuger Islam-Charta: Diskussionsgrundlage
(kompakt, PDF)
Zuger Islam-Charta: Diskussionsgrundlage (ausführlicher, PDF)


b) Plakatkampagnen

Im Januar und April 2010 wurden unsere Weltformat-Plakate mit 10 Sujets im öffentlichen Raum in Zuger Gemeinden ausgestellt. An rund 150 Orten wurden die verschiedenen Statements zu den ›Facetten des Islams‹
für die Einwohnerinnen und Einwohner, für Passantinnen und Passanten zu lesen sein – als Anregung, zur Sensibilisierung und als Einladung für die Debatte.


c ) 18. Diskussionsplattform und Schlusssymposium am 10. Dezember 2009

Öffentliche Podiumsveranstaltung mit Rahmenprogramm zum internationalen Menschenrechtstag 2009

Wie jedes Jahr findet anlässlich des Internationalen Menschenrechtstages im Gewerblich-Industriellen Berufsbildungszentrum Zug (GIBZ) eine öffentliche Veranstaltung des Vereins Integrationsnetz Zug statt.
Diesmal handelt es sich um das Schlusssymposium des Projektes ›Facetten des Islam im Kanton Zug‹.

Der interkulturelle Apéro wird um 18.30 Uhr eröffnet, ab 19 Uhr findet ein Podium statt.

Teilnehmende sind: Hawa Duale, Menschenrechtsaktivistin mit Schwerpunkt Genitalverstümmelung, somalische Frauengruppe Ostschweiz, Khaldoun Dia-Eddine von der Föderation islamischer Dachorganisationen in der Schweiz, Valentina Smajli, Präsidentin Integrationsnetz Zug, Walid Tariq Tarnutzer, Ahmadiyya-Bewegung, Vorsteher der Mahmoud-Moschee in Zürich, sowie Damir Skenderovic, Politikwissenschafter und Experte für Ausgrenzung, Rechtspopulismus und Islamfeindlichkeit. Durch den Abend führt Barbara Gysel, Co-Präsidentin Asylbrücke Zug.

Im Anschluss ans Podium bietet sich im Rahmen einer Publikumsdiskussion die Gelegenheit für Fragen, Kommentare und weitere Debatten. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!

Veranstaltungsort:
Gewerblich-Industrielles Berufsbildungszentrum Zug (GIBZ)
Baarerstrasse 100, 6300 Zug

Flyer (PDF)


d) Referatsreihen


18. November 2009:
17. Diskussionsplattform ›Frauen und Islam‹ mit Saïda Keller-Messahli

26. Oktober 2009:
16. Diskussionsplattform ›Islam und Integration‹ mit Amira Hafner Al-Jabaji

30. September 2009:
15. Diskussionsplattform ›Islam zwischen Stigma und Identität‹ mit Amir Sheikhzadegan

17. Juni 2009:
14. Diskussionsplattform Input und Auftakt mit Rifa’at Lenzin im Rahmen der Jahresversammlung



Mittwoch, 18. November 2009: 17. Diskussionsplattform mit Saïda Keller-Messahli

Thema: ›Frauen und Islam‹


Viele verstehen Islam und Gleichberechtigung als unvereinbare Gegensätze. Wie sieht aber die innerislamische Debatte diesbezüglich aus?

Im Rahmen unserer vierten und letzten Diskussionsplattform konnten wir dazu mit Saïda Keller-Messahli eine der bekanntesten und profiliertesten Fachpersonen begrüssen. Sie blickt des Weiteren selbst auf eine bewegte Migrationsgeschichte zwischen Tunesien und der Schweiz zurück. Eingeladen wurde sie insbesondere auch in ihrer Funktion als Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, das sie vor 5 Jahren auch gegründet hat.

Der Koran und die Frauen

In ihrem Inputreferat informierte Keller-Messahli – explizit über mediale Allgemeinplätze hinaus – dann in einem ersten Teil fundiert über den Platz der Frauen im Koran: In allen drei grossen, monotheistischen Religionen spiele ›die Frauenfrage› eine prägende Rolle – es beständen gewissermassen gemeinsame patriarchale Wurzeln, da es meist Männer seien, die das göttliche Wort erhalten hätten. Es seien weiter auch Männer, die über das heilige Wort wachten, dieses kanonisierten und geschlechterungleiche Strukturen innerhalb etwa von Kirchen legitimierten. In den heiligen Schriften selbst sei auf zahlreiche Stellen verwiesen, die die Stellung der Frau markant abwerteten: Gemäss Koran, Sure 4 haben etwa Männer Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat und weil die einen Vermögen für die anderen ausgeben. Immerhin sehe man daran auch den Anspruch von Frauen auf Unterhalt, was für das 7. Jh. nicht selbstverständlich ist.

Allah habe an und für sich kein Geschlecht. Doch ›unterhalb‹ von Allah sind die wesentlichen Akteure fast ausschliesslich Männer. Das islamische Gelehrtentum wurde und wird durchwegs von Männern getragen und gelehrt (mit wenigen Ausnahmen wie etwa Aischa). Patriarchale Strukturen sind in den arabischen Regionen jedoch bereits vorislamisch: Der Prophet hat diese Strukturen dann nicht abgeschafft, sondern durch ihre Erhebung als göttliche Ordnung stabilisiert. Sure 2, Vers 228 des Korans lautet: ›Die Männer stehen eine Stufe über ihnen› (gemeint sind die Frauen). Diese Zweitrangigkeit der Frauen hat vielfältige Gestalten und zeigt sich z.B. auch im islamischen Recht, etwa im geringeren Gewicht der Frauen im Zeugenrecht und ihrer Benachteiligung im Erbrecht (Sure 4, Vers 11). Daran ändern auch etliche Koranstellen nichts, die die Männer ihrerseits ermahnen, die Frauen (ge-)recht zu behandeln.

Wer darauf beharre, den Koran in seinem Wortlaut anzuwenden, nehme in der Regel zitierte Wortstellen als Basis. Daneben gibt es gemäss Keller-Messahli aber auch eine ›andere‹ Realität – sprich Versuche, den heiligen Kontext anders zu lesen bzw. zu verstehen. Zu solchen DenkerInnen gehören namhafte Persönlichkeiten wie etwa der ägyptische Linguist Nasser Hamid Abussaid, der heute im Exil lebt. Sein ›Verbrechen‹ bestand einzig in der Ansicht, dass der Text des Koran nicht von Gott, sondern vom Menschen geschaffen wurde.
Über diese Frage finde aktuell eine heftige Debatte innerhalb der islamischen Welt statt. Sie sei v.a. für jene Leute wichtig, die diesen Text anders lesen und mit unserer Zeit vereinbaren wollen.

Die islamische Realität der Frauen

Gemäss Keller-Messahli sind mehrere verschiedene, koexistierende Wirklichkeiten zu unterscheiden: Es gibt sowohl Frauen, die darunter leiden, dass sie nach wie vor nicht aus dem Geist des 7. Jh. herausgeholt werden. Gleichzeitig gibt es in vielen muslimisch geprägten Ländern zahlreiche Errungenschaften, die den Frauen zu mehr Rechten verhelfen. Dazu erwähnt sei das Verbot der Polygamie in Tunesien; Jemen und Somalia anerkennen die Gleichstellung der Frau; in Ägypten, Jemen und Somalia wurde die Verstossung der Ehefrau Gegenstand von Gerichtsverfahren; in Jemen und Somalia hat die Mutter ein subsidiäres Sorgerecht und in Ägypten ein Besuchsrecht. Überall dort sind folglich auch Anstrengungen vorhanden, sich vom islamischen Recht zu lösen.
Gleichzeitig liessen sich zahlreiche Beispiele für genau gegenteilige Entwicklungen nennen: Ayatollah Khomeini setzte etwa im Iran das bestehende, fortschrittliche Familienschutzgesetz ausser Kraft. In vielen islamisch geprägten Ländern wurden und werden schliesslich auch westliche Werte kopiert, z.B. übernahm die Türkei 1926 das Zivilgesetzbuch nach schweizerischem Vorbild. Ein Kulturkampf findet auch innerhalb der islamischen Welt selbst statt: Starken Kräften, die sich um Menschenrechte bemühen, stehen starke Kräfte, die auf dem Buchstaben des Korans beharren, gegenüber. Das Forum für einen fortschrittlichen Islam in der Schweiz versteht sich laut Keller-Messahli als Unterstützung für alle, die versuchen, Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie mit dem muslimischen Glauben in Einklang zu bringen. Das ist keinesfalls ein bescheidenes Vorhaben. Das Forum ist jedoch überzeugt, dass sich diese Werte zum Islam in eine harmonische Beziehung bringen lassen.

›Sich-Lösen‹ und ›Sich-Öffnen‹ als integrationspolitische Herausforderungen

In der anschliessenden Diskussion wurden denn auch fortschrittliche Elemente innerhalb des Islam selbst betont, etwa wenn es um soziale Gleichheit geht. Ebenso wurde festgehalten wieviel dem Islam welt- und schweizweit derzeit eigentlich abverlangt werde, denke man vergleichsweise an unverändert konservative Tendenzen innerhalb der katholischen Kirche (Fragen zur Verhütung, usw.).

Gemäss Einschätzung der Referentin unterstützen von rund 400'000 MuslimInnen in der Schweiz über 80% Haltungen, wie sie auch das Forum vertritt. Die meisten seien dafür, dass ein modernes Verhältnis hergestellt werde zwischen dem Genuss des modernen Lebens und religiösen Werten. Manchmal entständen Differenzen zu den VertreterInnen konservativerer Haltungen, das Forum bemühe sich aber, immer wieder auf diese zuzugehen. Zuweilen gäbe es aber Differenzen, die dann halt nicht überbrückbar seien (Beispiel Homosexualität).

Sozialpsychologisch sehr schön zeigte Keller-Messahli schliesslich die Situation muslimischer Frauen in der Diaspora auf: ›Ganz wichtig ist die Verbundenheit und das Verbunden-Bleiben mit der Gemeinschaft. Gemeinschaft will immer im Leben von Individuen mitreden, ganz speziell bei Frauen. Eine muslimische Frau, die nach Europa kommt, muss sich zuerst mit der Situation anfreunden, dass die Gemeinschaft, wie sie sie kennt, nicht mehr da ist. In einem zweiten Schritt muss sie die neue Freiheit auch nutzen lernen. Der Preis dafür kann Einsamkeit sein. Erst wenn man diesen Preis für die Freiheit verstanden hat, ist man fähig, sich eine eigene Gemeinschaft aufzubauen, die sich radikal unterscheidet von der religiösen Schicksalsgemeinschaft. Diese neue Gemeinschaft kann man aber selber gestalten. Es ist gleichzeitig auch die grösste Herausforderung der Integration an und für sich: Die Herausforderung des ›Sich-Lösens‹ und des ›Sich-Öffnens‹, die auch misslingen kann. Für derartige Übergänge braucht es mehrheitsgesellschaftliche Unterstützung – und mitunter auch einfach einmal auch eine zweite Chance.‹

Flyer (PDF)

top




Montag, 26. Oktober 2009: 16. Diskussionsplattform mit Amira Hafner Al-Jabaji

Thema: Islam und Integration

›Ein unsichtbarer Islam kann niemals ein integrierter Islam sein, sondern im besten Fall ein versteckter,
was gewisse Risiken birgt‹.

Bereits konnte unsere Moderatorin Cilem Didar Toere zur dritten halb-öffentlichen Diskussionsplattform der Reihe ›Facetten des Islam im Kanton Zug‹ begrüssen: Motto des Abends waren die vielfältigen und vielschichtigen Verflechtungen von Islam, Migration und Integration in der Schweiz respektive in Zug.

Die inhaltliche Vertiefung lieferte diesmal die irakisch-deutsch-schweizerische Islamwissenschafterin Amira Hafner Al-Jabaji, Mitgründerin des Vereins ›Granges Mélanges‹ in Grenchen. Eine ›Grande Mélange‹ im verschiedenen Wortsinne war denn auch zur heutigen Debatte erschienen: Wir freuten uns – ohne gross Öffentlichkeitsarbeit betrieben zu haben – rund 40 Personen unterschiedlichster Herkunft, Religion und Funktion zu treffen. Die Diskussionen waren lebhaft, engagiert und vermochten auch diverse Aspekte, Achsen und Auseinandersetzungen innerhalb des Islam aufzuzeigen, die den meisten anwesenden Nicht-MuslimInnen wohl kaum bekannt waren.

Hafner Al-Jabaji wies in ihrem Input auf das komplexe Verhältnis von Religion und Integration hin, wobei Religion für Zugewanderte ja keineswegs das einzige sinnstiftende Element darstellen müsse. Die Referentin beobachtet derzeit vor allem sich verschärfende Debatten in der Mehrheitsgesellschaft: Meist geht es um die Frage, was am Islam verhandelbar ist und was nicht. Zunehmend wird Religion im gesellschaftlichen und politischen Diskurs als nicht eben förderlich für Integration betrachtet oder diesbezüglich gar mit einem negativen Vorzeichen versehen. Der Islam soll für seine hiesigen Glaubensangehörigen gemäss diesem Blickwinkel dieselbe Rolle spielen, wie die ›angestammteren‹ Kirchen, wie das Christentum in der Schweiz: Er hat eine Privatsache zu sein. Religion oder eben der Islam hat darüber hinaus, gerade angesichts von Sprach- und Integrationsproblemen, Diskriminierungen und ›Andersartigkeit‹ von Zugewanderten aber auch eine wichtige gemeinschaftliche Funktion, er kann Zugewanderten eine ›Aufgehobenheit‹ in der Schweiz bieten.

Die neue Sichtbarkeit des Islam in der Schweiz


Mit der Volkszählung im Jahre 2000 rückte Religion hierzulande unversehens zurück ins öffentliche Bewusstsein, weil zwei Tatsachen unmissverständlich belegt wurden.

Erstens: Der grosse religiöse Trend hierzulande ist die Konfessionslosigkeit, die stetig zunimmt.

Zweitens: Die drittgrösste Relgion der Schweiz ist der Islam – das eigene Bekenntnis zu einer Gemeinschaft scheint gerade in der Diaspora ungebrochen, ja gar stärker zu sein als im Herkunftsland. Über die Glaubensausübung, die kultische Praxis ist damit aber noch nichts gesagt. Vor 2000 waren es hauptsächlich Kirchen, Schulen und Behörden, spezifisch Bauämter, die sich mit den gesellschaftlich relevanten Dimensionen des Islam (Moscheen, Schuldispense etc.) in der Schweiz zu befassen hatten, heute sind es immer mehr mehrheitsgesellschaftliche Foren und Medien, die sich in die Debatte einmischen: Es war ein sozialdemokratischer Kantonsrat, der 2004 das Kopftuchverbot aufs Tapet brachte, die CVP Schweiz hat eigens ein Islampapier verfasst und die SVP wird nicht müde, sich der Thematik zu bedienen.

Die zugrunde liegende These ist dabei meist: Religion und Integrationsförderung lassen sich schlecht vereinbaren. Gerade umgekehrt könnte man jedoch auch argumentieren: Nach Jahrzehnten der Zuwanderung muslimischer Menschen in die Schweiz regt sich nun das Bedürfnis nach der eigenen Religion stärker als früher, vielleicht gerade weil ihre Zugehörigkeitsgefühle zur Schweiz soweit gestärkt sind, dass sie auch eine öffentlich-rechtliche, eine gesellschaftliche Anerkennung ihres Glaubens erwarten (können). Viele Zugewanderte muslimischen Glaubens fühlen sich in der Schweiz zu Hause, sie haben manchmal keine andere Heimat mehr, in ihrer Selbstdefinition ist schweizerische und muslimische Identität nicht selten eng verbunden. Für den schweizerischen föderalen Staat stellen sich in der Folge auf allen Ebenen Fragen danach, wie er unsere in der Bundesverfassung verankerten Rechte, sprich die Religionsfreiheit, umsetzen kann und soll. Hafner Al-Jabaji spricht in diesem Kontext vom ›hegemonialen Ringen‹.

Zukunftsperspektiven und Integrationschancen eines schweizerischen Islam

Die Spannung zwischen individuellem Glauben und Zugehörigkeitsgefühl (der Islam ist eine Bekenntnisreligion) und – eher traditioneller gemeinschaftllicher Glaubenspraxis zeigt sich besonders stark in der zweiten und allenfalls dritten Einwanderungsgeneration: Rund ein Drittel der Muslime in der Schweiz ist unter 30 Jahre alt. Diese jungen Menschen stehen heute oft vor dem Dilemma, sich für eine Lebensperspektive entscheiden und damit der/den anderen eine Absage erteilen zu müssen. Zugehörigkeit und Abgrenzung gehen Hand in Hand, dabei ist Identität nie nur eindimensional – Abstufungen oder Priorisierungen sind es, die Integration vereinfachen können.

Selbstredend gilt der Rahmen der Rechtsstaatlichkeit für alle in der Schweiz lebenden Menschen, dies ist jedoch für den allergrössten Teil der Muslime ohnehin eine Selbstverständlichkeit. Was sie zukünftig wirklich benötigen, ist eine Befähigung, gesellschaftlich, ökonomisch und politisch sowie einen verstärkten Einbezug in unsere Demokratie und Zivilgesellschaft, nicht nur wenn es um ihre eigenen Anliegen geht.

Konkret müssten wir über ihre Eingliederung in bestehende Regelstrukturen nachdenken: Islamische Gemeinschaften sollten kommunal, kantonal und national klarer strukturiert und organisiert werden. Entscheidend ist die öffentlich-rechtliche Anerkennung, ansonsten könnte ein Rückzug der Muslime drohen. Ein weiterer zentraler Punkt ist dabei auch eine verbesserte (universitäre) Aus- und Weiterbildung muslimischer Geistlicher und Schlüsselpersonen, was zusätzlich zu theologischen, philosophischen und didaktischen auch Kenntnisse über die hiesigen rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrifft.

Was die Genderdimension angeht, so sollten wir bei Anwürfen hinsichtlich der Frauenfeindlichkeit des Islam bedenken, dass die christlichen Glaubensgemeinschaften sich diesbezüglich auch nicht eben leicht taten – und tun. Nichtsdestotrotz geht für die Referentin kein Weg an einer breiten, innerislamischen Debatte über die Chancengleichheit der Frau im Glaubensleben vorbei. Bauliche Massnahmen und angeblicher Platzmangel in Moscheen sind keine Gründe, um weibliche Zugänge einzuschränken und Frauen zu marginalisieren. Die derzeitige leidige Debatte um 4 Minarette und die angeblich schleichende Islamisierung der Schweiz geht an einer substantiellen Auseinandersetzung mit den Facetten des Islam und seiner Sichtbarkeit vorbei.

Wieso haben Menschen hier denn derart Angst vor dem Islam, wenn sie in ihrem eigenen Religionsverständnis so sicher sind?

Die grosse Heterogenität der Anwesenden, Menschen aus sunnitisch-, alevitisch-, agnostisch-, säkularisiert- oder gar atheistisch-muslimischem Umfeld ebenso wie MigrantInnen anderer Religionszugehörigkeiten und ›einheimische› SchweizerInnen, trug gleich massgeblich dazu bei, der Forderung der Referentin nach mehr fundiertem (innerislamischem) Dialog nachzukommen:

Eine erste Differenzierung und Diskussion betraf die Relevanz der Minarette im Islam: Auch in der muslimischen Welt sind sie nicht überall üblich und zwingend – die 4 Minarette sind kaum das Kerninteresse der schweizerischen MuslimInnen. Eher ist es die von Hafner Al-Jabaji im Referat betonte Sichtbarkeit und Anerkennung, die sich auch anders bewerkstelligen liesse, als über Gebetstürme. Angesprochen wurden etwa christliche Kirchensteuern (auch für Muslime) sowie muslimische Beerdigungs- oder Bestattungsmöglichkeiten. Viele muslimische Gebetsräume liegen ausserdem in Industrievierteln und sind eher Provisorien denn Moscheen: Soll man diese Provisorien nun mit Gebetstürmen festigen? Die Kernfragenlautet: Welche gesellschaftlichen Ebenen spricht man damit eigentlich an und was ist der Zusammenhang zu struktureller Integration?

Betont wurde von verschiedener Seite die Relevanz einer Demokratisierung (Identifikationschancen, etwa durch erleichterte Einbürgerung) und eines Einbezugs von Minderheiten innerhalb des schweizerischen Islam: Z.B. fühlen sich AlevitInnen den Moscheen (noch) nicht zugehörig. Dreh- und Angelpunkt ist die Frage der Moderne und der Modernisierung, dazu bräuchte es gemäss Hafner Al-Jabaji etwa einen Generationenwechsel in der Leitung der muslimischen Gemeinschaften der Schweiz, verbesserte Ausbildungen für die islamischen ›Eliten‹ und Schlüsselpersonen sowie eine verstärkte Partizipation der MuslimInnen als BürgerInnen.

Soweit ist man in der Schweiz noch lange nicht.

›Wir Muslime müssen unser Leben hier leben – egal was der türkische Ministerpräsident über die Speerspitzen des Islam gesagt hat‹, meinte ein Diskussionsteilnehmer.

Natürlich hätten viele SchweizerInnen Unklarheiten und Vorbehalte, gar Ängste hinsichtlich des Islam. Aber rund 90% der hiesigen MuslimInnen sind säkular und staatstreu, sie schätzen die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie die Demokratie und Konsenskultur der Schweiz sehr. Hafner Al-Jabaji sieht Gefahren für Zusammenleben und Demokratie viel stärker in Nationalismen aller Art – Religion habe an und für sich einen eher universalen und mitunter einigenden Charakter.

Wirklich bedenkenswert scheint schliesslich die Frage zu sein, inwiefern die Minarettverbotsinitiative und damit zusammenhängende Polemiken auch eine Chance für einen substantiellen und nachhaltigen muslimisch-schweizerischen Dialog über (inter-)religiöse und insbesondere interkulturelle und integrationspolitische Massnahmen darstellen können:

Bringen Informationen und Diskussionen in diesem Zusammenhang letztlich MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen gar zu mehr Selbst-Bewusstheit und mehr Berührungspunkten? Oder, wie ein muslimischer Teilnehmender es treffender formulierte: ›Wieso haben Menschen hier denn derart Angst vor dem Islam, wenn sie in ihrem eigenen Religionsverständnis so sicher sind?‹

Flyer (PDF)

top


Mittwoch, 30. September 2009: 15. Diskussionsplattform mit Amir Sheikhzadegan

Thema: ›Islam zwischen Stigma und Identität‹


›Muslimische Frauen sind radikale Feministinnen, Burkaträgerinnen – und alles dazwischen!‹

Der iranisch-schweizerische Soziologe und Islamforscher Amir Sheikhzadegan gab den inhaltlichen Input zur Zweiten Diskussionsplattform, die am 30.09.2009 in der Zuger Stadt- und Kantonsbibliothek stattfand.

Der von Cilem Toere kompetent moderierte und durch Amir Sheikhzadegan inhaltlich eingeführte Abend stand ganz im Zeichen der Identitätsfragen. Der Referent befasst sich denn an der Universität Fribourg auf wissenschaftlicher Ebene auch mit islamischer Identität im europäischen – und schweizerischen - Raum.

Vor rund 20 Teilnehmenden entwickelte Sheikhzadegan erst Schicht um Schicht einen komplexen und facettenreichen Begriff von Identität, der auf die eigene Person, auf Beziehungen, auf den Blick des persönlichen Umfeldes oder auf die Zugehörigkeit zu einer religiösen, politischen, ethnischen oder sprachlichen Gruppe bezogen sein kann. Die Gruppenidentität (etwa eine muslimische Glaubensrichtung) ist damit grundsätzlich nur ein Teil einer menschlichen Identität und liefert nur eine Teilantwort auf die Frage: ›Wer bin ich?‹

Islamische Identität könne von anderen zugeschrieben, selbst gewählt oder erklärt sein. Je nachdem dominierten statt rein religiöser auch kulturelle Aspekte, etwa Rituale und Bräuche einer geographischen Region oder eine gemeinsame ethnische Werteorientierung. Der aktuelle Stand der Identitätsforschung geht von vielfältigen, von so genannt multiplen Identitäten aus. Identität wird als Prozess, als bewegte Entwicklung, weniger als gegebener Zustand gesehen. Wenn Identitäten ›beschädigt‹ werden, sei dies in Bezug auf Körpereigenschaften, auf Religion, Ethnie oder Schicht, so wird dies als Stigma oder Stigmatisierung bezeichnet.

Muslimische Identitäten in der Schweiz?

Muslime in der Schweiz gehören einer Vielzahl von Nationalitäten und Ethnien an – sie verfügen ebenso über eine Vielzahl von Identitäten. Sheikhzadegan bezeichnet sie als weitgehend integriert (worauf wir in der folgenden Diskussionsplattform vertieft eingehen werden). Menschen muslimischen Hintergrunds in der Schweiz seien ausserdem mehrheitlich laizistisch orientiert, das heisst, sie befürworten eine klare Trennung von Staat und Kirche, wobei religiöse Belange vom Staat ausgeklammert sind und primär dem privaten Bereich überlassen bleiben.

Die Auffassungen von – und Zugänge zum Islam gehen hierzulande weit auseinander: Von sehr ländlich bis urban, von wenig privilegiert bis beruflich äusserst erfolgreich, von radikalen Feministinnen bis zu Burka-Trägerinnen, Personen mit muslimischem Hintergrund haben ganz unterschiedliche politische und soziale Positionen.

Führt Stigmatisierung von Islam zu Erst-recht-Identität‹?

Noch könne man in der Schweiz nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass Islam ein Stigma oder eine Quelle von Diskriminierung sei. Wenn gegenwärtigen, bedenklichen Tendenzen aber nichts entgegengesetzt werde, dann könnte Islam in der Öffentlichkeit tatsächlich zunehmend als aggressiv-missionarisch, integrationshemmend, frauenfeindlich o.ä. dargestellt werden. In der Wissenschaft spricht man bei derartigen Radikalisierungen und deren Folgen mitunter von ›inversion of identity‹ oder eben ›Erst-recht-Identität‹: Die so Diskriminierten oder Stigmatisierten, die Muslime, könnten die Zuschreibungen irgendwann selbst übernehmen, für sich umformulieren und anpassen – bis hin zu effektiv radikal-religiösen Haltungen.

Noch ist ein grosser Teil der Schweizer Muslime durch Offenheit und Bereitschaft zur Öffnung hin zu neuen und vielfältigen Identitäten – auch der schweizerischen – gekennzeichnet. ›Wenn sie zuwenig Bereitschaft dazu zeigen, so ist das stärker durch ihre soziale Lage als durch ihren Glauben bedingt‹, meint Sheikhzadegan.

Die rege Diskussion im Anschluss an dieses Inputreferat befasste sich mit der innerislamischen Debatte und Kritikkultur (die in der Schweiz gemäss Sheikhzadegan viel schwächer ausgeprägt ist, als etwa im Iran), mit der Islam-Polemik von Seiten rechtsgerichteter Parteien weltweit, Islam und Atheismus und insbesondere auch mit dem eigentlichen Inhalt der Sharia, der dem grössten Teil der Nicht-Muslime weitgehend unbekannt zu sein scheint. Hier bleibt anzusetzen und weiter Verständigungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, in der Mehrheitsgesellschaft, innerhalb und zwischen den (Religions-) Gruppierungen.

Ein besonderer Akzent wird auf die Unterscheidung genuin religiöser und rein kultureller Traditionen und Praktiken gelegt: Sheikhzadegan erwähnt dazu als Beispiel die verheerende Genitalbeschneidung bei Frauen, wie sie etwa im Sudan vorgenommen wird: Sie findet keine Grundlage im Koran, wird jedoch von Menschen, die sie praktizieren, meist dennoch darauf zurückgeführt. Solche unbegründeten Vermischungen finden ihre Ursachen mitunter in fehlenden Arabischkenntnissen, Analphabetismus und lokalen, mündlichen Überlieferungen.

Flyer (PDF)

top


17. Juni 2009: 14. Diskussionsplattform mit Rifa’at Lenzin
an der Jahresversammlung des Vereins Integrationsnetz Zug

Input und Auftakt: ›In der Schweiz ist die ganze islamische Welt vertreten


Die pakistanisch-schweizerische Islamwissenschafterin Rifa'at Lenzin eröffnete den diesjährigen Veranstaltungsreigen des Vereins Integrationsnetz Zug.

Die Generalversammlung wählte Valentina Smajli zur neuen Vereinspräsidentin.

Unter der Leitung der abtretenden Präsidentin Anu Sivaganesan führte das Integrationsnetz Zug seine Jahresversammlung vor rund 30 Anwesenden durch. Für viele war es eine Première – motiviert durch die Veranstaltung mit Rifa'at Lenzin im zweiten Teil des Abends. Die in Zürich lebende Islamwissenschafterin engagiert sich seit Jahren für den interkulturellen und interreligiösen Dialog.

In ihrem Referat stellte sie eine markante Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung fest: Vor einigen Jahrzehnten noch als türkische oder jugoslawische ›Gastarbeiter‹ bezeichnet, würden Menschen muslimischer Herkunft heute zumeist als Problem empfunden und in einen Topf geworfen. Dabei spielt der Terroranschlag vom 11. September 2001 eine zentrale Rolle. Dazu komme, dass der Islam und der mit ihm gleich gesetzte islamistische Fundamentalismus das frühere Feindbild des Kalten Krieges abgelöst habe. Dieses Feindbild ignoriert die Verschiedenheit der Menschen mit dem Etikett ›Muslime‹. So betonte Lenzin, dass es auch etwa atheistische und säkulare Muslime gebe.

Als Hauptproblem der praktizierenden Muslime nannte die Wissenschafterin die fehlende öffentlich-rechtliche Anerkennung als religiöse Gemeinschaft in der Schweiz. Eine solche würde die ›kirchliche‹ Besteuerung der Muslime erlauben und damit auch Mittel für die Ausbildung von Imamen in der Schweiz sowie für einen Ausbau an jugendarbeiterischen und seelsorgerischen Dienstleistungen bereitstellen. Eine Anerkennung würde von Seiten des Schweizer Staates jedoch eine gemeinsame Dachorganisation voraussetzen – und das ist in der Schweiz, wo laut Lenzin ›die ganze islamische Welt vertreten ist‹, alles andere als einfach.

›Kultur ist Integration› und verändert sich dauernd


Recht eigentlich unter den Nägeln brennt den Schweizer Muslimen und Musliminnen die Zukunft ihrer Kinder: Haben sie die gleichen Chancen auf Ausbildungsplätze? Wie ist mit unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen in der Schule umzugehen? Gleichzeitig räumte Lenzin ein, dass die Kopftuchfrage oder der Schwimmunterricht nur eine kleine Minderheit der Personen muslimischer Herkunft wirklich beschäftige.

Dabei sei die Diasporagemeinschaft oft konservativer als das Herkunftsland. Immer wichtiger wird auch die Bestattungsfrage. Und ein grosses Problem sind für Gläubige wie für Säkulare die wachsenden anti-muslimischen Tendenzen in der Mehrheitsgesellschaft. Solche Tendenzen würden bewusst geschürt, etwa mit der Minarett-Initiative, von der sich Lenzin eine wuchtige Ablehnung wünscht, während eine nur knappe Verwerfung oder gar eine knappe Annahme das gesellschaftliche Klima weiter vergiften würden. In der Diskussion wurde die Meinung geäussert, dass es auch unter den Muslimen Spannungen und Ungleichheit gebe – etwa zwischen sunnitischen und alewitischen Personen aus der Türkei – und dass Muslime auch unter Vorurteilen von anderen Migrantengruppen litten. Der Einladung zum Gespräch, in dessen Verlauf auch die Anregung fiel, einen eigenständigen ›Euroislam› zu pflegen, waren auch verschiedene Vertreter islamischer Vereine im Kanton Zug, wo es vier islamische Gebetshäuser gibt, gefolgt.

Diese gemeinsame Dialogsuche und die Identifikation der Bedürfnisse der Muslime für ein besseres Leben und Zusammenleben im Kanton Zug sind die Hauptziele des Projekts ›Facetten des Islam‹, in dessen Rahmen das Integrationsnetz eine Postkartenaktion, eine Plakatausstellung in allen Zuger Gemeinden und am Menschenrechtstag eine grosse Abschlussdiskussion veranstalten will.

Als weitere Schwerpunktaktivitäten werden die Informationswebsite ›zuginfo.ch‹ für migrantische NeuzuzügerInnen ausgebaut und die 2008 produzierten neuen ›Heimaten‹-T-Shirts des Integrationsnetzes Zug vertrieben. Schliesslich wird im Hinblick auf das 10-jährige Jubiläum das Vereins eine grosse Ausstellung mit dem Titel ›Kultur ist Integration‹ geplant, die von der Hochschule für Kunst und Gestaltung Luzern inhaltlich und gestalterisch begleitet wird.

Aus dem Vereinsvorstand traten Sanaz Rahimifar und Marlène Schenk zurück, während der aus dem Sudan stammende Suliman Mutwakil neu in das Gremium gewählt wurde. Im Präsidium kam es zu einer Stabübergabe von Anu Sivaganesan an Valentina Smajli. Smajli, die sich als im konservativen Obwalden aufgewachsene Schweizerin mit kosovarischen Wurzeln bezeichnet, plädierte dafür, kulturelle Werte nicht als etwas Stehendes zu begreifen, sondern als etwas, dass der stetigen Veränderung unterworfen sei.

top


drucken


back


top